Sehr geehrter Herr Minister Heil,

demokratische Prozesse können nur dann zu gerechten Ergebnissen führen, wenn tatsächlich die Interessen aller Menschen im Land berücksichtigt werden. Um Sie bei dieser wichtigen Aufgabe zu unterstützen, wenden wir uns heute mit diesem offenen Brief an Sie, um sie über die Situation bei den Tafeln zu informieren. Daraus ergibt sich die Forderung nach einer temporären Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze um 100€.

Die Tafel Göttingen existiert seit gut 25 Jahren und versorgt in fünf Ausgabestellen, von denen momentan eine geschlossen ist, wöchentlich knapp 1000 Personen mit geretteten Lebensmitteln. Wir arbeiten täglich direkt mit und für bedürftige Menschen und dienen dabei häufig als erste Ansprechpartner oder auch als Ventil für Unzufriedenheit. Dadurch sind wir in der Lage, die Lebenssituation und Bedürfnisse unserer Kundschaft verlässlich einschätzen zu können. Wir verstehen es daher als unsere Pflicht, unseren Kundinnen und Kunden eine Stimme zu verleihen, damit ihre Interessen nicht übergangen werden.

Während der aktuellen Covid-19-Pandemie stehen unsere Kundinnen und Kunden aufgrund gestiegener Lebensmittelpreise, des Ausfalls von Mittagsverpflegung an Kitas und Schulen, sowie des Mehrbedarfs für angemessene Schutzkleidung vor besonderen finanziellen Herausforderungen. Die ohnehin knapp bemessenen Sozialleistungen erweisen sich in dieser Situation als unzureichend.

Hinzu kommt, dass viele unterstützende soziale Einrichtungen momentan gar nicht oder nur eingeschränkt tätig sein können. Und auch wenn sie – wie die Tafel Göttingen – durchgehend geöffnet sind, fällt es ihnen mitunter schwer, ihre Zielgruppen zu erreichen. Gleichzeitig steigt die Zahl der Neuanmeldungen bei der Tafel Göttingen. Vor dem Hintergrund, dass sich die Tafeln nicht als grundständige soziale Einrichtung, sondern bloß als ergänzendes Angebot verstehen, ist dies als Indikator für die Unzulänglichkeit staatlicher Grundsicherung zu werten.

Wir halten es gerade jetzt für besonders wichtig, soziale Risikogruppen nicht aus dem Blick zu verlieren. Viele unserer Kundinnen und Kunden sind sozial isoliert und leiden unter Vereinsamung. Wir müssen feststellen, dass immer mehr Menschen das Gefühl haben, von der Gesellschaft und dem Staat abgeschrieben zu werden. Dieses Gefühl wird mitunter dadurch verstärkt, dass der Staat in anderen Bereichen sehr umfangreiche finanzielle Mittel zur Krisenbewältigung bereitstellt. Die Krise zeigt, was möglich ist, wenn nur der politische Wille dazu besteht, und erinnert uns so daran, dass Armut eine politische Entscheidung ist.

Deshalb halten wir es für zwingend notwendig, jetzt ein deutliches Zeichen an die armen Menschen in unserem Land zu senden: Wir sind auch für euch da! Die bereits von mehreren Seiten erhobene Forderung, die Hartz-IV-Regelsätze temporär um 100€ zu erhöhen, halten wir zu diesem Zweck für angemessen. Wir bitten Sie eindringlich, die Bedürfnisse der einkommensschwächsten Bevölkerungsschichten ernst zu nehmen und eine entsprechende Gesetzesänderung auf den Weg zu bringen. Sonst bleibt Solidarität nur ein leeres Wort.

Mit freundlichen Grüßen

Tafel Göttingen

Hinweis:

Diesen Brief haben wir auch an den Ausschuss für Arbeit und Soziales verschickt.

Offener Brief an die Politik #100€mehr